Wieviel Psychotherapie ist genug?

 
 
 

Im Durchschnitt enden Therapien in Deutschland heute nach weniger als zehn Stunden. Sind solche kurzen Behandlungen wirklich für alle Klienten gut genug? Oder reagieren die Psychotherapeuten nur auf den Effizienzdruck der Krankenkassen?

Margit kommt wegen eines Burnouts in Therapie, ihre Hausärztin hat eine Depression diagnostiziert. Nach einem halben Jahr und 25 Stunden Therapie sieht sie sich noch nicht in der Lage, wieder zur Arbeit zu gehen, und bittet ihren Therapeuten um eine Verlängerung. Hendrik ist nach einem Unfall querschnittsgelähmt und leidet seither unter Depressionen. In der Therapie findet er schnell neuen Mut und kann nach ein paar Sitzungen wieder am Leben teilnehmen. Hannah setzt mit einer Rasierklinge hauchdünne Schnitte an ihren Unterarmen. Ihr Therapeut vermutet, sie könnte als Kind sexuell missbraucht worden sein, und beantragt eine Langzeittherapie. Drei Menschen mit sehr unterschiedlichen Problemen, die unterschiedlich schnell und stark von Psychotherapie profitieren. Wieviel Psychotherapie ist genug, und woran lässt sich das erkennen?

Der Erfolg einer Psychotherapie zeigt sich zumeist schon nach den ersten drei Sitzungen, heißt es im Handbuch der Psychotherapie und Verhaltensmodifikation. Ein dicker, zwei Kilo schwerer Wälzer, der alle paar Jahre auf den aktuellen Stand der Wissenschaft gebracht wird. Demnach zeigen sich bei 80 Prozent der am Ende erfolgreich Therapierten schon

binnen 150 Minuten entscheidende Verbesserungen.

Bisher waren Forscher und Praktiker stets davon ausgegangen, dass Psychotherapien meist lang andauernde Prozesse sind und die Wirkung nicht gleich am Anfang eintritt. Diese Annahme wurde beispielsweise gestützt durch Untersuchungen, die die Psychiaterin Cornelia Albani und ihre Kollegen 2010 veröffentlichten. In breitangelegten Befragungen zu eigentlich nichtpsychologischen Themen hatten sie Tausenden Menschen eine Nebenfrage gestellt: Waren Sie auch mal in Psychotherapie? Und, falls ja, wie lange? Die Antwort lautete bei denen, die ihre Therapie schon abgeschlossen hatten: im Durchschnitt 48 Sitzungen – also viel länger als in Studien, in denen nach dem Zeitpunkt von Verbesserungen gefragt wurde, die für Klienten bedeutsam waren.

Vielleicht kam das Ergebnis der Studie von Albani dadurch zustande, dass diejenigen, die nur kurz beim Therapeuten waren, sich kaum daran erinnerten oder sich gar nicht „therapiert“ gefühlt hatten. Neuere Zahlen zeigen zumindest, dass Psychotherapien heutzutage sehr viel kürzer sind als bei den von Albani und ihren Kollegen Befragten. Die Techniker-Krankenkasse hat 2014 nachgerechnet, wie viel Psychotherapie sie wirklich in diesem Jahr bezahlt hat: Demnach enden 50 Prozent aller Therapien bereits vor der zehnten Stunde, nur 25 Prozent der Therapien dauern länger als 17 Stunden.

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