Problemanalysen
(Ausschnitt aus dem Lehrbuch: “Verhaltenstherapie: Was sie kann und wie es geht” (zusammen mit Andreas Veith))
[…]
Medizinische Diagnostik: die Entstehung des symptomzentrierten Ansatzes im DSM-III
Der Psychologe David Rosenhan hatte 1973 acht Pseudopatienten mit nichts weiter als der Aufgabe in die Psychiatrie geschickt, einmalig anzugeben, eine Stimme zu hören, die unter anderem das Wort „Rumms“ äußerte. Dort wurden sie zum Teil über Monate hinweg behandelt. Sie erhielten schwere psychiatrische Diagnosen und antipsychotische Medikamente, obwohl sie völlig gesund waren und nach ihrer Aufnahme keine Symptome mehr angaben. Es war mehr als peinlich; es war ein Anschlag auf das Fundament der Psychiatrie. Die Diagnostik, die Psychiater als Ausgangspunkt ihrer Therapie durchführten, erfolgte offenbar weitgehend beliebig und berücksichtigte Symptomveränderungen nicht. Hatte der Psychiatriekritiker Thomas Szasz (1961) doch Recht mit seinem Einwand gehabt, dass sich medizinische Kategorien grundsätzlich nicht zur Beschreibung psychischen Leidens eigneten? Eine weitere Studie (Cooper et al., 1972) hatte demonstriert, dass ein und derselbe Patient in unterschiedlichen Ländern abweichende Diagnosen erhielt, die psychiatrische Diagnostik also mehr vom diagnostischen Stil der Beurteiler und weniger von den Symptomen des Patienten abhing. Auch die Streichung der Diagnose „Homosexualität“ im Jahre 1973 per Handstreich aufgrund der Proteste von Homosexuellenverbänden und schwulen Psychiatern nährte Zweifel an der Legitimität der nosologischen Systeme.
Rosenhan und seine Kollegen hatten ihr Experiment in den 1970er-Jahren durchgeführt. Zu dieser Zeit diagnostizierten Psychiater noch auf Grundlage der zweiten Auflage des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM), des Katalogs psychischer Krankheiten, der von der American Psychiatric Association herausgegeben wird. Im DSM-II von 1968 fanden sich noch Begriffe wie „Psychoneurosen“ und „depressive Reaktionen“. Sie verrieten ihre Herkunft aus dem Theoriegebäude der Psychoanalyse.
Im selben Jahr machte sich der Psychiater und spätere Chefautor des DSM-III, Robert Spitzer, Gedanken über diese öffentliche Demütigung der Psychiatrie und findet die Schuld bei Freud. Es seien dessen Theorien zu inneren Konflikten, die Psychiater dazu verführt hätten, Patienten nach der Terminologie von Freud zu beurteilen, statt sie gründlich zu beobachten, meint Spitzer. Enttäuscht von der Psychoanalyse und im Stich gelassen von der Biologie, die zu Fragen psychischer Krankheit stumm geblieben war, entscheidet sich Spitzer für den einzigen Weg, den er für gangbar hält: Die psychiatrische Diagnostik muss ohne Theorie auskommen (vgl. Greenberg, 2013). Psychische Krankheiten sollen ausschließlich ihrer „Phänomenologie“ entsprechend, also so wie sie sich zeigen, beurteilt werden. Die Mittel der Wahl dazu sind die möglichst genaue Beschreibung der entsprechenden Symptome, die Beobachtung sowie die standardisierte Erhebung von Selbstauskünften, ihre Bewertung als „klinisch relevant“ und die Zugehörigkeit zu einer spezifischen Störungskategorie.
Diese Philosophie hat die psychiatrische Diagnostik im Sinne des medizinischen Modells bis in das DSM-5 hinein geprägt: Psychische Krankheiten werden nach ihren Symptomen geordnet, als gelte es seltsame Blüten nach Form und Farbe zu sortieren. Dadurch dass man nicht mehr spekuliert, was im Inneren der Patienten vor sich geht, soll Diagnostik zuverlässiger werden. Stattdessen hält man Ausschau nach dem, was sich einem aufmerksamen Beobachter präsentiert. Und die Methoden zur Heilung der Betroffenen – so das Selbstverständnis – leiten sich aus diesen Beobachtungen ab. In der psychiatrischen Praxis werden aber häufig verschiedene Wirkstoffe bei verschiedenen Störungen ausprobiert und bei Erfolg als „Heilmethode“ deklariert. Nach dieser Logik wird z. B. aus der symptomatischen Besserung, die auf die Gabe von Serotonin-Wiederaufnahmehemmern folgt, geschlossen, dass Depressionen das Ergebnis eines Serotonindefizits seien.
Zwei Sprachen – Zwei Welten
Bei aller Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Abkehr von der Innenwelt gibt es große Unterschiede zwischen dem frühen psychologischen und dem psychiatrisch-phänomenologischen Ansatz. Die lerntheoretische Reiz-Reaktions-Terminologie bleibt an der Oberfläche, um Veränderungsmöglichkeiten aufzuzeigen. Sie weist auf mögliche Interventionen hin. Weil sich Bedingungen und Ziele im Verlauf der Therapie immer wieder ändern können, ist die lerntheoretische Diagnostik dynamisch (s. hier in Abschnitt 5 das 7-Phasen Modell des diagnostisch-therapeutischen Prozesses nach Kanfer).
Die psychiatrische Phänomenologie konzentriert sich hingegen auf die Symptomatik, um die Richtigkeit der Diagnosen abzusichern. Die Symptomlisten des DSM sind deshalb statisch. Sie weisen auf Pathologien hin. Einige Autoren argumentieren sogar, dass implizit eine weitreichende Theorie aufgestellt worden sei, indem man das Wort ‚Reaktion‘ (wie in ‚reaktive Depression‘) wegen seines theoretischen (psychoanalytischen) Ballasts aus den Klassifikationen gestrichen habe: Da das Leiden anlasslos ist, muss es von innen kommen, aus dem Körper (vgl. Greenberg, 2013). Das erste Mittel der Intervention sind aus dieser Sicht daher oftmals Medikamente. Zwar haben auch verhaltensorientierte Maßnahmen in der psychiatrischen Therapie psychischer Störungen ihren Platz. Aber sie werden letztlich ebenfalls als Korrektur der Hirnphysiologie angesehen – nur eben auf dem Umweg über das Verhalten (vgl. Hasler, 2012). Selbst die therapeutische Beziehung wird aus rein neurophysiologischer Sicht entsprechend als „Medikament“ gesehen: Ihr wird dann die Aufgabe zugeschrieben, für die Freisetzung von Oxytocin und Serotonin zu sorgen, Hormone, die protektiv auf die Stressachse einwirken (so z B. Roth & Strüber, 2014).
Das Abfragen von Symptomen entsprechend der Diagnostik nach ICD und DSM dient damit letztlich dazu, aus den Aussagen des Patienten auf die dahinterliegende Pathologie zu schließen, also auf das, was in seinem Gehirn nicht in Ordnung ist: „In diesem Prozess werden aus Aussagen Symptome, aus Symptomen Krankheiten und aus Krankheiten Diagnosen (…).“ (Greenberg, 2008, S. 54). In der lerntheoretischen Verhaltensanalyse werden dagegen aus Verhaltensbeobachtungen Reize und Reaktionen, die in einem Kontingenzverhältnis zueinander gedacht werden (vgl. Kap. A 5 ab, Fliegel & Veith, Lerntheoretisch fundierte Bedingungen psychischer Störungen). Durch Veränderung dieser Kontingenzen werden konkret erwünschte Verhaltensänderungen angestrebt.
[…]