Wie spricht man richtig über Antidepressiva? Wie nützlich/schädlich sind sie?

 
 
 

Zusammenfassung: Mit Erscheinen einer umfassenden Übersichtsarbeit zu Serotonin und Depression und einer groß- angelegten Meta-Analyse zur Wirksamkeit von Antidepressiva auf individuellem Level gibt die Forschungslage neue Hinweise für das Klient*innengespräch zur Medikamenteneinnahme. Aus den empirischen Befunden können konkre- te Formulierungen abgeleitet werden. Dabei zeigt sich, dass das Gespräch nicht allein von den Daten bestimmt wird, sondern auch von theoretischen Positionen, die implizit politisch sein können.

Im Jahr 2018 veröffentlichte ich im Psychotherapeuten- journal den Text „Placebos, Drogen, Medikamente. Der schwierige Umgang mit Antidepressiva“. Im ersten Teil

stellte ich ein weit verbreitetes Erklärungsmodell der De- pression dar: Die „Serotonin-Hypothese“, nach der ein Serotonin-Mangel oder -Ungleichgewicht für Depressionen verantwortlich ist. In der Fachliteratur fand ich jedoch keine Belege für diese Hypothese. Im zweiten Teil widmete ich mich der Frage, wie wirksam Antidepressiva sind. Mit Blick auf die Forschung skizzierte ich eine an der Datenlage orien- tierte Formulierungshilfe für das Gespräch mit Klient*innen, die nicht sehr schwer depressiv sind:

„In leichten, mittelschweren und nicht allzu schweren Fäl- len erzeugen Antidepressiva im Durchschnitt keine größe- ren Effekte als Placebos. Die Chance auf einen pharmako- logischen Effekt der Behandlung in Ihrem konkreten Fall liegt bei ca. 14 %. Sie müssen daher überlegen, ob Ihnen die Chance auf diese Verbesserung die Nebenwirkungen, die sie möglicherweise verspüren werden (wie Mundtro- ckenheit, Gewichtszunahme, Absetzsyndrome, Verlust der sexuellen Appetenz etc.), wert sind.“ (Padberg, 2018, S. 329)

Inzwischen gibt es sowohl zur Frage der Verursachung von Depressionen durch Serotonin als auch zur Wirksamkeit von Antidepressiva jeweils eine große neue Studie. Zeit für ein Update. Im Folgenden werde ich die Studien kurz darstel- len und dabei die Formulierungshilfe an den neuesten For- schungsstand anpassen.

 

 

 Joanna Moncrieff und die radikale Rechte – Neue Erkenntnisse zur Serotonin-Hypothese der Depression

Bis zu 80% der Bevölkerung glauben, Depressionen wür- den durch ein Ungleichgewicht des Neurotransmitters Serotonin im Gehirn ausgelöst (Pescolido et al., 2010; Pil- kington et al., 2013). Das erscheint nur naheliegend, wird Serotonin doch ständig als „das Glückshormon“ bezeich- net. Jedoch ist es in vielen Untersuchungen immer wieder misslungen, einen entsprechenden Nachweis zu erbringen. Protagonist*innen der Psychiatrie verweisen darauf, kein*e ernstzunehmende*r Kolleg*in würde diese These heute noch so vertreten.3 Warum hält sich die Idee, es liege am Serotonin, dennoch hartnäckig? Es mag daran liegen, dass kaum ein*e ernstzunehmende*r Psychiater*in ihr öffentlich widerspricht, meinen kritische Stimmen. Tatsächlich regte der Wissenschaftsjournalist und Begründer der psychiatrie- kritischen Website Mad In America Robert Whitaker (2022) an, die amerikanische Psychiatrie-Organisation American Psychiatric Association (APA) wegen der Verbreitung der „Serotonin-Lüge“ zu verklagen. Bis heute findet sich der Verweis auf Serotonin auf Seiten von Psychiatrie-Organi- sationen, Gesundheitsministerien und natürlich in immer wieder neuen Beiträgen auf sozialen Medien, wenn es um „Mental Health“ geht (vgl. Demasi & Gøtzsche, 2020).

Für „Eingeweihte“ mag es dagegen tatsächlich wenig origi- nell gewesen sein, was Joanna Moncrieff und Mark Horo- witz, zwei britische Psychiater, zusammen mit anderen im Juli 2022 veröffentlichten (Moncrieff et al., 2022): ein Um- brella-Review4, das systematisch zusammentrug, was bisher zum Zusammenhang zwischen Serotonin und Depression erforscht worden war. Und auch sie fanden – nichts Neues.

„Unsere umfassende Übersicht der Hauptstränge der Se- rotonin-Forschung weist auf, dass es keine überzeugende Evidenz dafür gibt, dass Depression mit einer verminderten Aktivität oder Konzentration von Serotonin einherginge oder dadurch ausgelöst würde“, schreiben Moncrieff und ihre Mitautor*innen. […]